Betuschka und die geheimnisvolle Tänzerin – ein Märchen aus Tschechien
Neu nacherzählt und illustriert von Laumee Heike Fries
Betuschka war oft fröhlich. Das junge Mädchen liebte es, zu singen und zu tanzen. Und sie liebte das Leben – obwohl ihr Alltag oft beschwerlich war. Denn sie lebte mit ihrer Mutter in einem windschiefen Häuschen und oft reichte das Geld nur für das Nötigste. Deshalb war der Alltag der beiden meist karg. Betuschkas Vater war schon vor langer Zeit gestorben und seitdem schlugen Mutter und Tochter sich allein durch. Der ganze Stolz der beiden waren zwei Ziegen, die Betuschka hegte und pflegte und vom Frühling bis zum Herbst im nahegelegenen Birkenwäldchen weiden ließ.
Dazu packte ihr die Mutter jeden Morgen ein Körbchen mit meist schon hartem Brot und einer Handspindel. Denn sie webte Leinenstoff, den sie jeden Mittwoch auf dem Markt verkaufte. Und Betuschka musste den Leinenfaden dafür spinnen. Genau wie an diesem Sommertag wieder. „Und bring mir heute Abend eine schöne volle Spindel mit“, sagte die Mutter zum Abschied, als sie Betuschka einen großen Strang feiner Flachsfasern mitgab.
„Ja, natürlich – wie immer,“ sagte Betuschka und wickelte sich den Flachsstrang um ihren Kopf. Dann winkte sie ihrer Mutter rund hüpfte fröhlich singend mit den beiden Ziegen in Richtung Birkenwädchen davon.
Das Birkenwäldchen
Kaum war sie im Wäldchen angekommen, setzte sie sich unter eine besonders schöne Birke und begann damit die Flachsfasern zu verspinnen. Die Spindel surrte leise und Betuschka sang ein kleines Lied dazu. Die Ziegen grasten zufrieden in der Nähe. Irgendwann schaute Betuschka auf und sah, dass die Sonne schon hoch stand und es Mittag sein musste. Zeit für eine Pause, dachte sie sich und legte die Spindel in den Korb.
Dann nahm sie das Stückchen Brot heraus, brach eine Ecke ab und fütterte beide Ziegen damit. Danach lief sie weiter in den Wald hinein, um nach wilden Beeren zu suchen. Aber sie beeilte sich, denn sie wollte nicht, dass ihre Schützlinge plötzlich auf Wanderschaft gingen. Mit den Händen voller saftiger Früchte kehrte sie deshalb schon bald zurück.
Betuschkas Tanz
Nachdem sie Brot und Beeren verspeist hatte, stand sie auf und begann zu tanzen und zu singen. Das tat sie jedesmal nach dem Essen, diesmal machte es ihr aber besonders viel Spaß, denn es war herrliches Wetter und die Sonne blinzelte durch die Blätter der Bäume und ließ Betuschkas Gesicht noch mehr leuchten. Die Ziegen hatten sich mittlerweile ein schönes Plätzchen unter einem der Bäume gesucht und schauten Betuschka schläfrig zu.
Nach einer Weile setzte das Mädchen sich wieder unter die Birke und versponn den Rest des Flaches. Als sie abends zurückkehrte war die Spindel voll und ihre Mutter war zufrieden. Denn so konnte sie wieder einige Meter Stoff weben – und der Lebensunterhalt war für eine weitere Woche gesichert..
Die seltsame Fremde
So ging das den ganzen Sommer und den halben Herbst lang. Bis eines Tages an einem sonnigen Tag im September Folgendes passierte:
Wie jeden Tag wollte Betuschka nach dem Essen ein wenig singen und tanzen. Doch als sie gerade aufgestanden war, erstarrte sie mitten in der Bewegung. Vor ihr stand plötzlich eine Frau, die von innen zu strahlen schien. Sie hatte rabenschwarzes Haar, das im Sonnenlicht glänzte und mit Blättern und Blüten des Waldes geschmückt war. Und sie trug ein grünes Kleid aus Fasern, die so fein wie Spinnweben waren. Betuschka war sprachlos und traute sich nicht, sich auch nur einen Millimeter zu bewegen.
Die seltsame Frau lächelte und sagte: „Betuschka, hast du Lust zu tanzen?“ Ihre Stimme klang so melodisch und einfühlsam, dass Betuschka plötzlich gar keine Angst mehr hatte. Stattdessen sagte sie: „Oh ja, gerne. Ich würde am liebsten den ganzen Tag nur tanzen.“
Das Orchester
Die Frau streckte ihre Hand aus: “Dann komm. Ich bringe es dir bei.“ Betuschka zögerte, doch dann nahm sie allen Mut zusammen und ergriff die Hand. Denn was konnte schon passieren? Die Frau lächelte und wirbelte Betuschka herum. Plötzlich erklang eine wunderschöne Musik und als Betuschka sich umsah, entdeckte sie erstaunt, dass auf den Birkenzweigen unzählige kleine Musikanten saßen. Lerchen, Finken, Nachtigallen und Raben drängten sich dicht an dicht und trällerten eine unwiderstehliche Melodie, zu der man einfach hüpfen und wirbeln musste.
Betuschka strahlte vor Freude und ihre Augen glänzten, als sie sich im Takt des Vogelgezwitschers wiegte. Während sie ihre Tanzpartnerin beobachtete, die sich mit einer überirdischen Eleganz bewegte und dabei fast zu schweben schien, dachte sie kein einziges Mal an ihre Ziegen – und schon gar nicht an die Spindel, die doch am Abend voll sein sollte. Sie tanzte einfach weiter und wurde dabei überhaupt nicht müde.
…und plötzlich Schluss
Deshalb merkte sie auch gar nicht, dass der Tag zu Ende ging. Doch plötzlich verstummten die kleinen Musikanten und auch die wundersame Tänzerin war von einem Moment zum anderen verschwunden. Und dann fiel Betuschka ihr Auftrag wieder ein. Sie fasst sich an den Kopf und dort war ein ziemlich großer Strang ungesponnener Flachsfasern. Doch es wurde dunkel und sie konnte nichts mehr tun. Also rief sie die beiden Ziegen und machte sich betrübt auf den Heimweg. „Mutter wird ganz schön böse sein, wenn sie sieht, dass ich eine fast leere Spindel mit nach Hause bringe“, sagte sie leise zu den Ziegen. „Sollte diese Frau morgen wiederkommen, werde ich bestimmt nicht noch einmal mit ihr tanzen.“
Als sie nach Haus kam, versteckte sie schnell die halbleere Spindel und das ungesponnene Flachs und nahm sich vor, am nächsten Tag doppelt soviel zu spinnen, um die Sache wieder gut zu machen. Ihrer Mutter erzählte sie deshalb nichts von ihrer Begegnung. Die bemerkte zwar, dass ihre Tochter leiser war als sonst. Doch Betuschka erzählte ihr, sie hätte einen rauen Hals vom vielen Singen.
Heute kein Tänzchen
Am nächsten Tag war Betuschkas Stimmung wieder besser. Sie stopfte das Flachs vom Vortag heimlich in den Korb und zog dann wieder singend und tanzend mit den beiden Ziegen davon. Dann spann sie den ganzen Vormittag unter der Birke. Um die Mittagszeit gab sie den Ziegen wieder etwas Brot und machte sich auf die Suche nach Beeren. Als sie zurückkam, sagte sie zu den beiden dösenden Tieren: „Heute gibt es leider kein Tänzchen, denn ich muss gleich wieder an die Arbeit.“
Sie aß schnell ein paar Brombeeren und wollte sich gerade wieder unter den Baum setzen, da stand plötzlich die seltsame Fremde wieder vor ihr. „Warum willst du heute nicht tanzen?“ fragte sie. Es ist doch so ein wunderschöner Tag.“ „Ja, aber ich habe gestern den Flachs nicht versponnen. Das muss ich heute nachholen. Wenn meine Mutter das herausbekommt, wird sie traurig und wütend sein. Das möchte ich nicht“ „Ach Betuschka, tanz doch mit mir. Ich verspreche dir, du brauchst die keine Sorgen um die Spindel zu machen“, sagte die Frau daraufhin. Und schon erschienen die gefiederten Musikanten auf den Ästen und sangen ihr Lied. Betuschkas Füße begannen ganz automatisch zu tanzen. Sie konnte nichts dagegen tun. Und warum auch? Es machte so einen großen Spaß. Betuschka wirbelte herum und sie war so voller Freude, dass sie Ziegen, Flachs und Spindel vollkommen vergaß.
Die Spindel
Kurz vor Sonnenuntergang hielt die geheimnisvolle Tanzende plötzlich inne, die Vögel verstummte und Betuschka fiel alles wieder ein. „Oh nein, ich habe schon wieder das Flachs nicht versponnen“, sagte sie, als sie nach dem Strang um ihren Kopf tastete. „Was mache ich denn jetzt?“, fragte sie mit Tränen in den Augen. Doch die Frau lächelte nur und nahm Betuschkas Spindel und das Flachs. Dann begann sie in Windeseile zu spinnen Und als die Sonne kurze Zeit später unterging, war das komplette Flachs in das feinste Garn versponnen, dass Betuschka je gesehen hatte. Die Frau übergab Betuschka die Spindel und sagte: „Merke dir nur eins: Wenn die Spindel sich dreht, murre nicht dabei. Wenn die Spindel sich dreht, murre nicht dabei.“
Dann war sie verschwunden. Betuschka bewunderte das feine Garn und sie freute sich. Deshalb sang sie den ganzen Heimweg lang ein Lied nach dem anderen. „Wenn diese wundersame Dame morgen wiederkommt, tanze ich auf jeden Fall wieder mit ihr. Oh, ich hoffe sehr, sie kommt morgen wieder vorbei“, sagte Betuschka zu den Ziegen. Und sie freute sich schon bei dem Gedanken daran. Als sie nach Hause kam war sie deshalb noch fröhlicher als sonst.
Doch als sie zur Tür hereinkam, empfing ihre Mutter sie schon: „Was hast du gestern gemacht? Wo ist das Flachs? Ich habe nur eine halbleere Spindel gefunden.“ Doch Betuschka holte die übervolle Spindel hervor und hielt sie ihrer Mutter hin: „Ich habe gestern einfach zu viel getanzt. Aber schau. Heute habe ich es wieder gut gemacht.“ Ihre Mutter blickte verärgert auf das Garn, sagte aber nichts mehr. Betuschka überlegte kurz, ob sie ihr von der Frau erzählen sollte. Besser nicht, ich frage sie morgen, wer sie ist. Dann erzähle ich Mutter alles, beschloss sie schließlich.
Das Geschenk
Am nächsten Morgen machte Betuschka sich erneut auf den Weg ins Birkenwäldchen – fest entschlossen, diesmal wieder zu tanzen. Gegen Mittag ließ sie die Spindel fallen und wartete. Doch die Frau erschien nicht. Betuschka ließ sich davon jedoch nicht beirren. Sie ging zu den beiden Ziegen und sagt: „Dann tanze ich heute eben für euch.“ Und sie begann herumzuwirbeln. Dabei versuchte sie, so elegant und leichtfüßig zu sein, wie die geheimnisvolle Fremde. Und plötzlich hörte sie eine Stimme: „Lass uns doch zusammen tanzen.“
Betuschka drehte sich um und strahlte. Und schon waren auch die gefiederten Musiker wieder da und begannen ihr Lied. Betuschka und die Frau aus dem Wald tanzten den ganzen Nachmittag. Doch als die Sonne unterging, fiel ihr das ungesponnene Garn wieder ein. „Oh, nein, ich habe schon wieder das Flachs vergessen,“ rief sie entsetzt. Doch die wundersame Frau lächelte nur. „Gib mir deinen Korb und ich tue etwas hinein, das viel wertvoller ist als eine Spindel voller Garn“, sagte sie. Zögerlich gab Betuschka ihr den Korb und die Frau verschwand. Noch bevor Betuschka sich wundern konnte, war sie wieder da und gab den Korb zurück. Aber merke dir: „Schaue nicht hinein, bevor du Zuhause bist. Schaue nicht hinein, bevor du Zuhause bist“. Mit diesen Worten verschwand sie.
Die Enttäuschung
Betuschka rief die Ziegen und machte sich auf den Heimweg. Doch ihr war mulmig zumute. Sie kam schon wieder ohne gesponnenes Garn zurück. Und wer weiß, was die Frau ihr in den Korb getan hatte. Denn er war furchtbar leicht. Viel konnte es also nicht sein. Auf halben Weg hielt sie es einfach nicht mehr aus und schaute nach: Doch sie fand nur ein paar Birkenblätter. Wütend warf sie eine Handvoll davon auf den Waldboden. Sie wollte schon den ganzen Korb ausleeren, doch dann entschied sie sich anders. Den Rest würde sie an die ihre Ziegen verfüttern, sollten die beiden wenigstens etwas von all dem haben.
Traurig und enttäuscht kam Betuschka zuhause an. Dort wurde sie von Ihrer Mutter empfangen, die vollkommen aufgeregt war. „Sag mal, was hast du mir nur für ein Garn mit nach Hause gebracht?“, rief sie mit glühenden Wangen. „Es wurde und wurde nicht weniger. Ich habe gewebt und gewebt und die Spule war immer noch voll. Das wurde mir unheimlich. Und als ich mich laut beschwerte, dass so etwas überhaupt nicht sein kann und bestimmt irgendein böser Geist dafür verantwortlich ist, war das Garn auf der Spindel plötzlich weg.“
Die Waldfee
Betuschka traute ihren Ohren kaum. Dann erzählte sie ihrer Mutter von der Begegnung. „Oh, du bist einer Waldfee begegnet,“ sagte die erschrocken zu ihrer Tochter. „Ich habe gehört, dass sie immer um zwölf Uhr mittags und um Mitternacht tanzen.“
„Sie hat mir gesagt, dass man niemals murren sollte, wenn die Spindel sich dreht“, sagte Betuschka erstaunt. „Oh, hätte ich das gewusst, dann hätte ich unendlich viel Garn gehabt. Hätte ich doch bloß nicht gemurrt“, die Mutter schüttelte den Kopf, dann sagte sie: „Du hast Glück, dass du kein kleiner Junge bist. Denn dann hätte die Waldfee dich bestimmt zu Tode getanzt. Aber Waldfeen mögen kleine Mädchen. Und manchmal beschenken sie sie reich.“
Bei diesen Worten fiel Betuschka der Korb wieder ein. Schnell schaute sie nach, was sich darin befand. Denn jetzt war sie ja zuhause. Und tatsächlich: Die verbliebenen Blätter waren aus purem Gold. Betuschkas Mutter war sprachlos und ihr kamen die Tränen vor Freude. Sie fiel ihrer Tochter um den Hals und die beiden begannen um den Küchentisch herum zu tanzen.
Die Erinnerung
Am nächsten Tag machte Betuschka sich auf den Weg zum Birkenwäldchen, um die Stelle zu finden, wo sie die Blätter hingeworfen hatte. Vielleicht waren sie ja auch zu Gold geworden. Doch sie fand nichts. Aber das war nicht mehr wichtig. Denn die goldenen Blätter waren genug, dass Betuschkas Mutter einen kleinen Hof und einige Tiere kaufen konnte. So hatten die beiden ein gutes Auskommen und mussten keinen Hunger mehr leiden.
Mit den beiden Ziegen ging Betuschka dennoch oft zum Birkenwäldchen und ließ sie dort grasen. Spinnen musste sie jetzt zwar nicht mehr, aber sie hoffte so sehr, dass die wundersame Frau noch einmal dorthin kommen würde. Denn auch wenn ihr Leben jetzt viel leichter war, dachte Betuschka fast jeden Tag wehmütig an ihren Tanz mit der Fremden zum Gezwitscher von Lerchen, Finken Nachtigallen und Raben. Doch sie sah sie nie wieder.