Leben nach der Sepsis: Mein Weg vom unbeweglichen Gemüse zur Wanderlust-Queen

Ende 2018 hat mich eine schwere Sepsis ereilt – mit Koma, Lähmung und allem Drum und Dran. Hier kannst du mehr darüber lesen.
Seitdem ist viel passiert und ich möchte dir ein wenig mehr über mein Leben danach erzählen. Bevor du jetzt schnell das Weite suchst: Du kannst Dich auf eine spannende Geschichte freuen, die trotz des Themas viel Spaß macht.
Aber, puh, es ist eine Menge Material. Zuviel, um alles in einen einzigen Blogpost zu quetschen: Aus meinem vagen Vorhaben ein Buch zu schreiben ist mittlerweile ein echtes Vorhaben geworden.
In meinem Blog fasse ich mich deshalb ein bisschen kürzer (naja) und beschränke mich auf ein Thema pro Artikel.
Heute erfährst du, was ich alles angestellt habe, um endlich wieder gehen zu lernen – und das ohne Reha. Das Ganze ist nebenbei auch ein kleiner Mini-Exkurs im Setzen von Zielen und Durchhalte.
Hoch, höher…whuaaa
Also los geht’s: Am 25.Januar 2019 wurde ich nach knapp zwei Monaten aus dem Krankenhaus entlassen. Das weiß ich so genau, weil mein Mann einen Tag vorher Geburtstag hatte. Ein sogenanntes Rollstuhl-Taxi brachte mich irgendwann mittags nach Hause. Ganz schön seltsam, wie alles aussieht, wenn man lange nicht mehr da war. Kennst du das Gefühl, wenn du aus dem Urlaub zurück bist und deine Wohnung kommt dir viel größer oder kleiner vor? So war das bei mir auch. Aber ich fand es toll: So kuschelig und bunt. Und meine Katze erschien mir unglaublich klein und knuffig.
Ich konnte mich noch immer nicht selbstständig bewegen. Deshalb kam mir schon im Krankenhaus die Idee, das Sofa mit einer weiteren Matratze zu erhöhen. Außerdem hatte mein Mann es mit Vierkanthölzern zusätzlich aufgebockt.
Denn es kam auf jeden Zentimeter an: Mich hochzuwuchten war wesentlich leichter, wenn ich möglichst hoch saß – für mich und die armen Hochwuchtenden. Das war ja ohnehin nur meine Familie – und keine Fachperson. Da Sepsis blöderweise nicht auf der Liste der Krankenkassen steht, bekam ich nämlich keine Reha oder eine andere Hilfe. Deshalb musste ich mir was anderes einfallen lassen. Also schlief ich eben erst einmal unten auf dem Sofa.
Mein Mann konnte glücklicherweise einige Tage frei machen. Und danach erklärte sich meine Mutter bereit, mich zu unterstützen. Zum Glück, denn alleine wäre ich so hilflos gewesen, wie ein Käfer auf dem Rücken.
Im Farbenrausch mit Rocco Schiavone
Schon im Krankenhaus hatten wir im Sanitätshaus eine Ausrüstung bestehend aus Toilettenstuhl, Rollator und Rollstuhl bestellt – als Leihgabe. Nicht sehr sexy, aber hilfreich. Wobei ich mich in den ganzen Monaten weder mit Rollator oder Rollstuhl jemals auf die Straße getraut habe. Mit einem Plastikbeutel wegen meines damaligen künstlichen Darmausgangs hingegen schon.
In jedem Fall war ich heilfroh, wieder zuhause zu sein. Ein echter Farbenrausch nach dem ganzen krankenhausweiß. Und hurra, endlich besseres Essen!
Zugeben, das Sitzen fiel mir immer noch schwer. Ja klar, sitzen ist doch easy, denkst du jetzt vielleicht. Aber mein Kreislauf sah das ganz anders. Tatsächlich war Sitzen für mich enorm herausfordernd. Aber ich hatte mir vorgenommen, zuhause meinem eigenen Reha-Plan zu befolgen.
Dazu gehörte, mich regelmäßig in aufrechter Position zu befinden. Im Krankenhaus war dazu keine Zeit – und wenn ich mal aufgesetzt wurde, hatte ich immer panische Angst, dass man mich vergaß und ich mit nackten Beinen stundenlang auf der Bettkante hocken musste.
Aber zuhause hatte ich ein sicheres Umfeld. Also wuchtete mich mein Mann jede Stunde ein eine aufrechte Position. Schon am ersten oder zweiten Abend schaffte ich es, eine ganze Folge Rocco Schiavone – der Kommissar und die Alpen im Sitzen zu schauen. Wow, das war ein riesiger Erfolg für mich. Und das, obwohl ich eigentlich keine Krimis mag
Schlaflos im Wildschweinland
Aber dennoch konnte ich so gut wie nichts alleine machen. Wenn ich nachts aufs Klo musste, rief ich meinen Mann per Handy in der oberen Etage an, damit er mich auf den Toilettenstuhl hockte und ins Gäste-Bad fuhr. Dieses schlecht ausgebildete Pflegepersonal zu Hause kam immerhin schneller als die Profis im Krankenhaus ;). Ich verbrachte also die nächsten Wochen nachts auf der Couch – auf dem Rücken liegend, denn drehen konnte und durfte ich mich nicht.
Da mir der Rücken immer so weh tat, lag ich oft wach und hörte den Wildschweinen im Garten beim Wühlen zu. Essen wollte ich am Tisch – überhaupt wollte ich alles so normal machen, wie es geht. Nur mit dem Aufsetzen und Aufstehen haperte es noch. Und die Zeit drängte. Denn mein Mann hatte nur ein paar Tage frei. Danach kam meine Mutter und ich wollte vermeiden, dass sie mich hochheben muss. Okay, ich war nur eine halbe Portion, aber trotzdem.
Also begannen mein Mann und ich zu tüfteln, wie ich denn aus diesem Bett käme. Nach einem Monat Muskelaufbau mit den wirklich tollen Physiotherapeuten im Krankenhaus waren ein paar Prozent schon wieder da. Und mein der Nerv, der den Hüftbeuger steuert, war schon im Krankenhaus wieder aufgewacht.
Der war vorher mein größtes Sorgenkind. Denn ohne diesen Nerv konnte ich auch mit der größten Anstrengung meine Beine nicht beugen – nicht einmal ein bisschen. Und eigentlich war das Erwachen dieses kleinen Nervs der größte Meilenstein auf dem Weg zum aufrechten Gang. Denn ab da erschien mir alles wieder möglich – auch irgendwann wieder alleine aufzustehen.
Physik macht Beine
Und das wollten wir jetzt versuchen. Aber der Rollator erwies sich als tückisch. Das Ding kippte frech um, wenn ich mich darauf stütze wollte. Also legten wir erst einmal Gewichte vorne in den Korb. Irgendwann hatten wir die Erleuchtung: Physik, na klar. Ich stellte fest, das sich mich mühsam seitlich aus dem Liegen ins Sitzen hochwuchten konnte, wenn ich meine Arme auf bestimmte Weise unter meinen Körper brachte. Puh, das Hinsetzen wäre geschafft.
Doch wie sollte ich aufstehen? Der blöde Rollator war nicht sonderlich hilfreich. Aber auch da half die Physik, Wenn ich mich ganz nach vorne beugte und mit dem Oberkörper und einem Arm auf der Sitzfläche des Rollators lag, konnte ich mich mühsam hochklappen. Das war gefährlich, denn ich konnte jederzeit vom Bett runterrutschen. Das ging also erst einmal nur unter Aufsicht. Aber immerhin – der erste Schritt war gemacht. Meine Mutter kam und musste mich kein einziges Mal heben.
Von da an hatte ich Blut geleckt. Mein Ziel: Wieder gehen können – am liebsten unten am Fluss entlang und ganz alleine ins Bad. Und wie toll das war, so ein klares Ziel zu haben. Wahnsinn. Verückterweise war das eine schöne Zeit. Ich wusste genau, was ich jeden Tag zu tun hatte. Ich trainierte und forderte meinen Körper. Erkannte aber auch meine Grenzen und ging nur soweit, wie es sinnvoll war.
Das hätte frustrierend sein können, aber ich habe mich wie bekloppt über die kleinsten Erfolge gefreut. Hurra, ich kann mein Bein einen Zentimeter über den Boden heben. Ich kann zehn Schritte mit dem Rollator schleichen. Wow, ich kann mich alleine hinsetzen.
Dazu übte ich nicht nur Gehen, sondern trainierte auch meine Arme mit Thera-Bändern und machte Übungen im Liegen und Sitzen – und das mehrmals am Tag. Ich entwickelte einen regelrechten sportlichen Ehrgeiz – pah, von wegen stur. Das nennt man Durchhaltevermögen.
Kahl wie ein betagter Ork – aber glücklich
In dich sah jeden Tag Fortschritte – das war aufregend. Aber es war auch eine schwierige Zeit. Denn als meine Mutter abreiste, verbrachte ich meine Tage alleine. Viel trainieren konnte ich nicht, denn es bestand immer die Gefahr, das sich hinfallen könnte. Also bin ich nur aufs Klo und in die Küche – Immer an den Rollator geklammert und mit dem Telefon in der Hand.
Wirklich was heben konnte ich nicht. Und so ein Gang ins Bad dauerte ganz schön lange. Immerhin kam einmal in der Woche eine Physiotherapeutin. Wenn es klingelte machte ich mich auf den Weg – das dauerte ebenfalls. Kennst du die Ents im Herrn der Ringe? Ungefähr so. Nur dass ich dabei eher aussah wie ein betagter Ork – ohne Muskeln und Haare. Denn die fielen mir immer mehr aus. Mein Mann versuchte das zu überspielen, aber ich merkte schon, dass ich aussah, als hätte ich mit Brennstäben gespielt. Naja, das war mir auch egal. Zu der Haargeschichte und Perücken schreibe ich ein anderes Mal.
Rückblickend war diese Zeit des neu gehen Lernens spannend, anstrengend und recht einsam – denn leider kam kaum jemand vorbei. Viele Bekannte wussten es nicht und die anderen interessierte es nicht. Wir waren schließlich erst vor Kurzem hergezogen – deshalb war der Freundeskreis noch eher klein. Aber was sollte ich machen – also trainierte ich eisern weiter und schaute Blödsinn im TV. Denn lesen machten meine Augen nicht mkt – alles flackerte und die Buchstaben verschwanden. Außerdem war es für mich zu dem Zeitpunkt viel zu anstrengend.
Ich konzentrierte mich weiter auf mein Ziel. Und kam ihm immer näher. Ein Teilbereich davon war, endlich in den oberen Stock zu kommen und zu duschen. Denn das hatte ich seit Monaten nicht mehr. Und wenn du dich nur mit Waschlappen sauber hältst, sieht deine Haut irgendwann aus wie – tja, wie soll ich das beschreiben? Es juckt jedenfalls, vor allem an den Schienbeinen.
Mein Training: Nimm das Karate Kid
Also trainierte ich auch an der Treppe. Na gut. Bis ich soweit war, das Bein eine ganze Treppenstufe hochzuheben trainierte ich erstmal mit Büchern. Und als ich es schaffte, meinen Fuß auf das Oxford Dictionary zu heben, das immerhin einige Zentimeter dick ist , war ich bereit für die Treppe. Aber mehr als eine Stufe schaffte ich noch nicht.
Ich erinnere mich, als ich meinen Mann bat mich zur Treppe zu begleiten, da ich üben wolle. Dann hob ich mühsam einen Fuß auf die Stufe, versuchte mich abzustoßen, scheiterte – und war dennoch zufrieden. Mein Mann war allerdings ein wenig enttäuscht. Er dachte, ich würde mich jetzt schon auf die nächste Stufe schwingen. Aber ich hatte mein Ziel erreicht.
Am nächsten Tag würde es schon besser gehen, da war ich mir sicher. Und so war es auch. Mein Körper machte prima mit. Und ich war nicht frustriert, wenn es nur langsam voranging. Stattdessen beschloss ich, einfach weiter aufs Ziel zuzusteuern. Langsam aber stetig. Als Künstlerin kenne ich das ohnehin nicht anders: Versuchen, scheitern, dranbleiben, vorankommen, es ruinieren, nochmal von vorne anfangen, frustriert sein … und enorm viel dabei lernen. Der Weg ist das Ziel. Und dann geht es plötzlich doch.
So vergingen die Wochen: Ich lag auf dem Rücken, die Wildscheine wühlten, ich trainierte und tippelte immer öfter durch die Wohnung. Irgendwann konnte ich gefahrlos selbstständig nachts aufstehen und mit dem Rollator zum Klo. Wow, das war toll. Davon hatte ich im Krankenhaus geträumt. Und jetzt wurde der Traum wahr. Wahnsinn.
Runter vom Rollator
Es ging also sichtbar voran. Irgendwann beschloss ich, mich von diesem Rollator etwas mehr zu entfernen. Also ging ich an meinen Mann geklammert durchs Wohnzimmer. Ja, für dich ist das vielleicht was ganz Normales. Aber ich fühlte mich wie auf einem sehr großen Pferd, das gerade den Kopf runterbeugt. Da war nichts, voran ich mich festhalten konnte – nur Leere. Aber ich wollte mich so früh wie möglich an diese Leere gewöhnen. Denn ich wollte irgendwann wieder raus.
Und mit Rollator auf gar keinen Fall. Außerdem kam ich eh die Stufe von der Haustür nicht herunter. Dabei war draußen mein großes Ziel – zusammen mit der Dusche. Und irgendwann kam der Tag, an dem ich festgeklammert an meinen Mann zum ersten Mal raus ging – in den Garten.
Es war wackelig und ziemlich schwierig, da die Wildschweine ganze Arbeit geleistet hatten und der Garte aussah wie ein übel zugerichteter Acker. Also balancierte ich sehr vorsichtig über Erdhaufen einmal ums Haus herum – und ich war sooo glücklich. Was Tolleres konnte es nicht geben, als auf den eigenen Beinen draußen zu sein. Herrlich.
Denn trotz der ganzen Mühe, der Isolation und der Anstrengung war ich jeden Tagg so unglaublich froh und glücklich. Alleine, dass ich noch lebte und dass ich die Aussicht hatte, irgendwann wieder normal gehen zu können. Deshalb übte ich auch weiter fleißig an der Treppe und traute mir immer mehr zu.
Ein Hoch auf die Dusche
Irgendwann konnte ich schließlich selbst ohne Rollator und Hilfe gehen. Das war etwa drei Monate nach meiner Entlassung. Gut, es sah aus wie bei einer etwa 200jährigen, die sich nicht gut gehalten hat – aber immerhin. So tappte ich eines Tages aus dem Bad, kam an der Treppe vorbei und dachte: Ach eigentlich könntest du mal versuchen, ob du wieder eine Stufe höher kommst. Denn mittlerweile schaffte ich schon zwei.
Natürlich festgeklammert an das Geländer, wie ein Affe mit Höhenangst – und mit Panik vor der Kurve. Unmöglich, dass ich die schaffen könnte. Aber komm eine weitere Stufe, dachte ich mir. Also versuchte ich es. Und ich fühlte mich gut. Heute habe ich die Beine, dachte ich. Vielleicht geht sogar noch eine. Und dann merkte ich, dass ich es schaffen könnte bis ganz nach oben.
Ich nahm alle Kraft zusammen und zog mich Stück für Stück weiter. Die Beine waren schwer, ich klammerte am Geländer – und es war mindestens so anstrengend, wie der Aufstieg auf einen Berg. Aber es ging. Jetzt die Kurve, mir wurde schwindelig. Aber ich behielt die Nerven. Hurra, geschafft. Was sollte jetzt noch passieren. Ich sah den Gipfel schon. Ich zog und quälte mich und dann war ich oben. Ich konnte mein Glück kaum fassen.
Wie ich da wieder herunterkommen sollte? Keine Ahnung. Egal. Mein Mann saß unten im Esszimmer und hatte nichts bemerkt. Also rief ich ihn nach oben. Als er erstaunt ankam, ging ich sofort unter die Dusche. Oh, wie schön. Nach Monaten das erste Mal Wasser über mich laufen zu lassen. Einfach toll.
Gehen ist toll!
Ab diesem Moment beschloss ich, wieder oben im Schlafzimmer zu schlafen. Nicht lange danach konnte ich auch wieder spazieren gehen. Etwa gegen Ende April, also drei Monate nach meiner Entlassung aus dem Krankenhaus machte ich meinen ersten Spaziergang alleine. Ziemlich wackelig und nicht sehr weit.
Und seit diesem Tag im April 2018 gehe ich nahezu jeden Tag – heute etwa knapp fünf bis sechs Kilometer. Denn das hatte ich mir schon im Krankenhaus versprochen. Und bisher habe ich mich daran gehalten und keinen Tag bereut.
Zumal ich irgendwann irgendwo gelesen habe, dass gehen kreativ macht und ein matschiges Gehirn reparieren kann. Denn das hatte ich bitter nötig – von Gedächtnisproblemen über Sprachprobleme bis zu Halluzinationen war nämlich alles dabei. Aber auch das ist Stoff für ein anderes Mal.
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